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Das Reich Gottes, von Emmanuel Carrère

27 julio, 2016 Filed Under: Auf Deutsch

En español

Für Merche Martín und Samuel Albores, die mir, ohne einander zu kennen, diese Lektüre empfohlen haben.

El reino, de Emmanuele Carrère

Jacob Jordaens (1593-1678), Die vier Evangelisten (Fragment)

Autobiografische Erinnerung, historische Untersuchung, Meditation über das Christentum: Dies sind die drei Bestandteile von Emmanuel Carrères‘ Werk Das Reich Gottes, ein polemisches und spannendes Buch über das Urchristentum und die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit), der subversiven Botschaft seines Begründers treu zu bleiben.

Historische Fiktion?

Nun ist dies aber kein historischer Roman über die Apostelgeschichte. Wer eine solche sucht, dem empfehle ich Das Reich der Verderbnis von Anthony Burgess (dem Autor, der auch den von Stanley Kubrick für das Kino bearbeitete Roman Clockwork Orange verfasst hat). Nach Carrères Meinung ist es unvermeidbar, den Schatten des Autors projiziert zu sehen. Man akzeptiert ihn lieber und stellt ihn aus, als zu versuchen, ihn zum Verschwinden zu bringen; in derselben Weise, wie es den Malern der Vergangenheit nicht darauf ankam, die Jungfrau nach dem Brauch der Epoche zu kleiden, aber doch auf den Realismus des Gesichts. Und er vergleicht Das Reich Gottes mit den Erinnerungen Hadrians: „Es gibt zwei Schulen, und das einzige, was sich zugunsten der meinen sagen lässt, ist, dass sie besser zur modernen Sensibilität passt, einer Freundin des Verdachts, der dunklen Seite und des making of, als der zugleich überhebliche und naive Anspruch von Marguerite Yourcenar, sich zum Verschwinden zu bringen, um die Dinge so zu zeigen, wie sie in ihrem Wesen und ihrer Wahrheit nach sind“ (III.25).

Ich weiß nicht, ob ich in allem mit dieser Auffassung übereinstimme. Ich zitiere sie, weil sie zum Nachdenken darüber einlädt, welches die am besten geeigneten Wege sind, sich der historischen Wahrheit anzunähern, und die Fiktion ist eine Form, sich der Wahrheit anzunähern. Was die Ursprünge des Christentums angeht, sind die einzigen verfügbaren Quellen das Neue Testament, die Apokryphen, die Qumranschriften, Tacitus, Sueton, Plinius der Jüngere und Flavius Josephus. Davon ausgehend gibt es eine Vielfalt von Lektüren. Ein Theologe zum Beispiel wird in den Briefen des Paulus theologische Abhandlungen sehen. Für einen Historiker beschreiben diese Briefe das Alltagsleben, die Organisation und die Probleme der ersten Gemeinschaften, und sie enthalten die Routen der Reisen, die Paulus in den Jahren 50 bis 60 des ersten Jahrhunderts unternahm. Alle Historiker, unabhängig von ihrer Ideologie, nehmen die Briefe des Paulus und die Apostelgeschichte zur Kenntnis, aber alle wissen, dass man „im Falle von Widersprüchen Paulus Glauben schenken muss, denn ein unbearbeitetes Archiv hat größeren historischen Wert als eine spätere Zusammenstellung, und darauf aufbauend kocht jeder sein eigenes Süppchen. Das tue ich auch“ (II.20).

Betrachten wir nun, wie Carrère seine Arbeit auf einen Zweig der philologischen Studien gründet: die Textkritik.

Ähnlichkeiten, Widersprüche, Unterschiede

Das Markus-Evangelium endet, wie man in jeder Bibelausgabe nachlesen kann, damit, dass der auferstandene Jesus seinen Jüngern erscheint und sie auffordert, die gute Nachricht in aller Welt zu predigen. Das Problem ist nur: „Eigentlich ist das gar nicht das Ende. Dieses Kapitel wurde viel später hinzugefügt. Es kommt weder im Codex Vaticanus noch im Codex Sinaiticus vor, den ältesten erhaltenen Manuskripten des Neuen Testaments […] Das älteste der vier Evangelien zeigt nicht den auferstandenen Jesus, sondern endet mit dem Bild von drei erschrockenen Frauen vor einem leeren Grab“ (IV.33).

Da die Auferstehung ein Grundelement des christlichen Glaubens darstellt, handelt es sich hier nicht um ein nebensächliches Problem. Zu allem Überfluss kam die deutsche Bibelexegese im 19. Jahrhundert zu der Auffassung, das älteste Evangelium sei – im Widerspruch zur traditionellen Ansicht seit Eusebius von Caesarea, der zufolge Matthäus das erste Evangelium schrieb – das des Markus. Warum? Weil sowohl Matthäus als auch Lukas unabhängig voneinander das Markus-Evangelium lasen, es als Quelle verwendeten und zu großem Teil übernahmen. Außerdem hätten die Evangelien von Matthäus und Lukas über eine noch ältere Quelle verfügt, das Manuskript Q  (Q wie Quelle). Man vermutet, dass alle Matthäus und Lukas gemeinsamen Passagen, soweit sie nicht von Markus sind, aus Q stammen. Und schließlich gibt es noch das, worin Matthäus und Lukas sich unterscheiden, das sogenannte Sondergut.

Selbstverständlich kann man, wenn man sich auf die ältesten Zeugnisse vom Schluss des Markus-Evangeliums stützt, nicht entscheiden, ob Jesus auferstanden ist oder nicht. Eigentlich ist es auch vorstellbar, dass das im 1. Jahrhundert geschriebene Markus-Evangelium doch über jenen Schluss verfügte, der sich in den modernen Ausgaben findet. Der Codex Vaticanus und der Codex Sinaiticus, Manuskripte aus dem 4. Jahrhundert, sind Kopien von dazwischen liegenden, heute verschollenen Textzeugen, denen der „wahre“ Schluss fehlt, den wiederum spätere Textzeugen aufweisen, nämlich jene, auf deren Grundlage der Text seine abschließende Gestalt erhielt. Im Folgenden interessiert mich nicht die Glaubensfrage, sondern die Vielfalt der möglichen Lektüren.

Kehren wir zum Manuskript Q zurück.  Es ist nicht erhalten, wir verfügen lediglich über die 1907 von Adolf von Harnack vorgelegte Rekonstruktion, die etwa 10 Seiten umfasst; es sind 250 Verse, die zum größten Teil aus Worten bestehen, die Jesus gesagt haben soll. Carrère weist darauf hin, dass man hier Vorsicht walten lassen muss, denn es handelt sich nicht um eine Transkription dessen, was Jesus tatsächlich gesagt hat. Dennoch sei, da es keinen anderen Textzeugen gibt, „nirgendwo sonst deutlicher seine Stimme“ zu vernehmen (III.34).

Was das Lukas-Evangelium betrifft, so „stammt eine Hälfte von Markus, ein Viertel aus Q und ein weiterer Teil aus Sondergut“ (III.34). Dieser letzte Teil hat Carrère besonders interessiert, denn durch diesen spezifischen Lukas-Text wird er festzustellen versuchen, wie er sein Evangelium schrieb und, noch wichtiger, wie Lukas als Chronist der Reisen des Paulus die zentrale Botschaft Jesu verstand.

Der Schriftsteller Lukas

Zu den anderen Evangelisten ist zu sagen, dass Markus Sekretär von Petrus war. Matthäus hat es möglicherweise gar nicht gegeben, es war wohl der Name, den eine Gruppe von Autoren bekam, die von Seiten der Kirche den Vorzug für die Begründung des Kanons erhielt. Sieht man von den synoptischen Evangelien ab, so ist es das Evangelium des Johannes, des Lieblingsjüngers, das eine antijüdische Position aufweist. Ihm pflegt auch die 40 Jahre früher entstandene Apokalypse zugeschrieben zu werden, doch das ist problematisch, weil sie jene Christen angreift, welche die jüdischen Vorschriften nicht beachteten, und Lukas, der Paulus nahestand, wird die Anspielung verstanden und sich bedroht gefühlt haben, als er die öffentliche Lesung in Ephesos hörte (IV.21). Dies ist aus der Analyse der Paulus-Briefe zu erschließen, die sich für eine universelle Kirche einsetzen. Sowohl in der Apostelgeschichte (deren Autor Lukas ist) als auch in den Apostel-Briefen (von denen die einen authentisch sind, andere nicht) ist im Schoß der Urkirche der Kampf um Prestige und Macht zu beobachten.

Carpaccio, Visión de san Agustín

​Vittore Carpaccio, Vision des Hl. Augustinus oder Der hl. Augustinus im Studierzimmer (1502)

Mit den Texten in Reichweite, so stellte Carrère sich Lukas bei der Arbeit vor: „Lukas war ein Aufklärer, ein Belesener […] Die drei Dokumente, auf die er sich bezieht, sind die Septuaginta, Markus und Q, hinzuzufügen ist meines Erachtens Flavius Josephus“ (IV.34). Carrère kennt diese Quellen sehr gut, hat er doch als Übersetzer des Markus-Evangeliums an einer neuen französischen Bibel-Ausgabe mitgearbeitet.

 

Eine eigene Erfahrung

Um das Markus-Evangelium zu übersetzen, bedarf es nicht nur der Kenntnis des Griechischen, man muss das Evangelium auch interpretieren können. An der Universität habe ich zusammen mit meinem Freund Esteban Kohen und anderen Studenten an einer Übersetzung dieses Evangeliums mitgearbeitet. Zu dem Versuch ermutigte uns Prof. Alfredo Fraschini, der ein Seminar über frühchristliche Texte gegeben hatte.


Als wir schon bei der Arbeit waren, gab es viele Diskussionen, zumal die Gruppe keinen Leiter hatte.  Am heftigsten wurde über die Frage debattiert, wie das Wort hamartia zu übersetzen wäre. Die ursprüngliche Bedeutung ist  „Verfehlen“ (der Bogenschütze verfehlt sein Ziel), doch schon im ersten Jahrhundert konnte das Wort auch die Bedeutungsnuance des absichtsvollen Fehlers ausdrücken, d. h., den Wunsch, etwas Böses zu tun. Das Problem bestand darin, dass ein Teil der Gruppe argumentierte, hamartia dürfe nur als bloßer „Fehler“ übersetzt werden, denn „Sünde“, die traditionelle Übersetzung, sei Ergebnis der verderblichen kirchlichen Bibelexegese.


Leider war es nicht möglich, gegen die Kirche gerichtete persönliche Gedanken von der Angemessenheit zu trennen, das Wort „Sünde“ zu verwenden. Ich denke noch immer, dass die Verwendung von „Fehler“ ohne Hinweis auf die Absichtlichkeit eine abwegige Übersetzung ergeben hätte, und der Vorschlag, den griechischen Begriff beizubehalten, eine unlesbare Version. Ich erzähle von dieser Erfahrung, um anhand eines Beispiels die Schwierigkeiten zu veranschaulichen, mit denen es ein solches Vorhaben aufnehmen muss (das übrigens, wenn ich mich recht erinnere, unvollendet blieb).



Laut Carrère war der Eindruck, den die Lektüre des Markus-Evangeliums auf Lukas machte, der folgende: „Es ist die Geschichte eines auf dem Lande tätigen Wunderheilers, der Teufelsaustreibungen vornimmt und für einen Zauberer gehalten wird. Er spricht in der Wüste mit dem Teufel. Seine Familie will, dass er eingesperrt wird. Er umgibt sich mit einer Bande Ausgestoßener, die er mit ebenso unheimlichen wie enigmatischen Prophezeiungen in Schrecken versetzt und die fliehen, als er gefangen genommen wird. Sein Abenteuer, das kaum drei Jahre dauerte, endet in Entmutigung, Verlassenheit und Schrecken, mit einem stümperhaften Prozess und einer gemeinen Hinrichtung. In Markus’ Erzählung gibt es nichts, was sie schöner oder die Figuren liebenswerter  machen würde. Hat man diese brutale Chronik gelesen, gewinnt man den Eindruck, jenem auf immer unerreichbaren Horizont so nahe wie nur möglich zu sein: dem, was wirklich geschah.  Dass dies meine eigenen Projektionen sind, weiß ich. Ich glaube trotzdem, dass Lukas, als er Markus’ Erzählung entdeckt hatte, einige Verbitterung gespürt haben wird: Ah, das hat jemand anderes gemacht… Denn er selbst wünschte es zu tun, hatte vielleicht schon damit begonnen. Und nach der Lektüre von Markus’ Text musste er sich sagen: Ich kann es besser. Ich verfüge über Informationen, die Markus nicht hat. Ich habe mehr Kenntnisse und weiß die Feder zu gebrauchen. Dieses Buch ist ein Entwurf, geschrieben von einem Juden für Juden. Wenn Theophil das lesen würde, fiele es ihm aus der Hand. Mir steht es zu, die endgültige Fassung dieser Geschichte zu schreiben, jene, welche die aufgeklärten Heiden lesen werden“ (IV.33-34).

Der geeignete Zeitpunkt für dieses Vorhaben kam, als Titus’ Legionen im ersten jüdisch-römischen Krieg den Tempel in Jerusalem zerstörten: “Bis zum Jahr 70 war ein Christ eine Art Jude. Er war an der Vermischung interessiert, denn die Juden waren als eine Minderheit identifiziert und im allgemeinen vom Imperium anerkannt. Als die Unterscheidung eingeführt wurde, war dies für die Christen nicht von Vorteil: Sie, nicht die Juden wurden aus Rache für den Brand Roms verbrannt.  Doch als diese nach Niederschlagung ihres Aufstands geächtet waren, für potenzielle Terroristen gehalten und ihrer Privilegien beraubt wurden, war es für die Christen vorteilhafter, sich von ihnen zu differenzieren. Bis zum Jahr 70 waren die Pfeiler ihrer Kirche Santiago, Petrus, Johannes; gute Juden, welche das Judentum förderten. Nur Paulus war ein abweichlerischer Agitator, von dem nach seinem Tode niemand mehr sprach. Mit dem Jahr 70 wird alles anders: Die Kirche des Santiago verschwindet im Wüstensand, die des Johannes verwandelt sich in eine Sekte paranoischer Esoteriker. Die Zeiten für Paulus und seine Kirche, die sich vom Judentum gelöst hat, sind herangereift. Paulus selbst war nicht mehr da, doch bleiben ihm über die ganze Welt verstreute Anhänger. Einer dieser Anführer, die Paulus’ Lehre folgen, ist Lukas. Nach der Rückkehr in sein Heimatland (Antiochien) dachte er, dort würde er nun in Zurückgezogenheit leben können. Er dachte, die Geschichte sei zu Ende, die Partie verloren. Doch da gibt es alte Kameraden, die derselben Zelle angehört hatten, die ihm sagen, es sei anders, alles werde reaktiviert und man brauche ihn“ (IV.29).

Zu dieser Zeit beginnt Lukas in Philippi, Makedonien, sein Evangelium zu schreiben, er war damals etwa 40 – 50 Jahre alt. Damals gab es keine großen Unterschiede zwischen den Städten des Reiches, ihre Einwohner lebten in  ähnlichen Verhältnissen.


Das Leben des Brian (1979)

Allerdings muss man auch die Perspektive der Besiegten berücksichtigen: Den „Frieden“ riefen die Römer aus, wenn sie alles zerstört hatten. Carrère weist darauf hin, dass die Römer des 1. Jahrhunderts nicht gläubiger waren als wir, es aber in ähnlicher Weise waren: „Die Römer stellten die religio der superstitio [dem Aberglauben] gegenüber: Riten, welche die Menschen verbinden, den Glaubensvorstellungen, die sie trennen […] Denken wir an uns, die Abendländer des 21. Jahrhunderts. Unsere religio ist die Laien-Demokratie. Wir fordern von ihr weder, dass sie uns begeistert, noch, dass sie unsere innigsten Wünsche erfüllt: Sie soll uns lediglich einen Rahmen zur Verfügung stellen, in dem sich die Freiheit eines jeden entfalten kann. Aus Erfahrung sind wir überaus misstrauisch gegenüber jenen, welche die Formel für das Glück oder für die Gerechtigkeit oder für die Selbstverwirklichung des Menschen zu kennen behaupten und sie uns aufzwingen wollen. Die superstitio, die unseren Tod will, war der Kommunismus, und in der Gegenwart ist es der islamische Fundamentalismus“ (IV.11).

Den Hl. Paulus stellt sich Carrère als einen Fanatiker vor, Lukas jedoch nicht. Pasolini habe dies nicht verstanden: Er verfolgte ein Filmprojekt über Paulus, das im 20. Jahrhundert angesiedelt war und in dem „Lukas die Rolle des Opportunisten, des Arglistigen zufällt, der im Schatten des Helden steht und ihn am Ende verrät. Ich musste die Überraschung, ja den Schrecken hinter mich bringen, doch nun glaube ich den Grund für Pasolinis Hass auf Lukas verstanden zu haben […] Für alle, die, wie der Gott der Apokalypse, die Zögerlichen verabscheuen, ist die Phrase der Spielregel, nach der jeder seine Gründe hat und das Drama des Lebens darin besteht, dass es sich immer um gute Gründe handelt, das Evangelium der Relativisten und, sprechen wir es aus, der Kollaborateure aller Zeiten. Da er aller Welt Freund ist, ist Lukas der Feind des Menschensohns“ (IV.9).

Lukas jedoch war ein Mann, der in Nuancen zu denken vermochte: ein syrischer Arzt, seine Muttersprache war Griechisch; obwohl ein Schüler des Paulus, sympathisierte er mit dem Judentum, und er wird, ohne dass Paulus Kenntnis davon hatte, Jesu Worte darüber, dass den Sündern verziehen wird, und jene über das verlorene Schaf gelesen haben. Obwohl er der Unbeirrbarste der Evangelisten „in Bezug auf das den Armen versprochene Glück und die mit dem Reichtum einhergehende Verdammung ist, erinnert Lukas auch am deutlichsten daran, dass es gute Reiche gibt, wie auch gute Zenturionen. Er zeigt die größte Sensibilität gegenüber den sozialen Kategorien, ihren Abstufungen und der Tatsache, dass sie nicht völlig das Handeln bestimmen“ (IV.42).

Vielleicht dieser Sensibilität wegen ist Lukas, der sich mehr für die Menschen als für die Ideen interessierte, Carrères Meinung nach „der erste antike Schriftsteller, der eine religiöse Bewegung vorstellt, indem er nicht ihre Lehre, sondern ihre Geschichte darlegt“ (IV.13). Am Anfang seines Evangeliums stellt Lukas ein Programm für einen Historiker auf, doch „kaum hat er diesen Anspruch formuliert, was tut er auf den folgenden Zeilen? Er schreibt einen Roman. Einen richtigen Roman“ (IV.35). Zu diesem Schluss kommt Carrère, nachdem er sich die Frage gestellt hat, woher Lukas das hat, was er schreibt und was sich nicht in den Quellen findet. „Ich bin ein Schriftsteller, der herauszufinden versucht, wie ein anderer Schriftsteller klargekommen ist […] es geht hier nicht um Kleinigkeiten: Es ist das Magnificat, es ist der gute Samariter, es ist die erhabene Geschichte des verlorenen Sohnes“ (III.31).

Rembrandt, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1662)

Im Folgenden entwickelt Carrère, wie Lukas den Mechanismus seines literarischen Artefakts zusammengesetzt hat. Als Beispiel wähle ich das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Auf die scharfen Anschuldigungen des älteren Sohnes hat „der Vater keine überzeugende Antwort. Über die Geschichte vom verlorenen Schaf, die das Muster des Gleichnisses ist, sagt Matthäus, Jesus erzähle sie mit einem Kind im Arm und schließe sie mit den folgenden Worten: «Also ist’s auch bei eurem Vater im Himmel nicht der Wille, dass eins von diesen Kleinen verloren werde.» Lukas fügt nichts dieser Art hinzu. Lukas, der Nachsichtige, der Zögerliche, der Versöhnliche, sagt, es sei eines der Gesetze des Reiches: einige gehen verloren“ (IV.47).

Was also ist das Reich?

Das Reich Gottes

Für Paulus ist das zentrale Element der christlichen Botschaft die Auferstehung. Diese Vorstellung war allerdings im 1. Jahrhundert merkwürdiger als heute: „Als die Jünger Jesu sie zwei Tage nach dessen Tod zu verbreiten begannen, als Paulus sie den Griechen jüdischen Glaubens verkündete, war sie keineswegs jene Art von barmherziger Vorstellung, die einem für gewöhnlich in den Sinn kommt, um sich über einen grausamen Verlust hinwegzutrösten, sondern eine Verirrung und Blasphemie“ (II. 27). Was die Folgen angeht, welche die Auferstehung in der jetzigen Welt haben könnte, ist darauf hinzuweisen, dass Carrère an der Vorbereitung von Les revenants mitgewirkt hat. Das Konzept dieser Serie ist interessant: Wenn die Toten ins Leben zurückkehrten, hätten sie keinen Platz mehr unter uns. Ich habe die Serie nicht gesehen, aber ich verweise hier auf die scharfe Kritik von Miguel Carrera.

Die Botschaft Jesu verdankt ihren subversiven Charakter jedoch nicht dem Versprechen der Auferstehung, sondern dem Umstand, dass die Schlussfolgerungen aus seinen Gleichnissen, obwohl sie aus dem Leben stammten, dem widersprachen, was immer als natürlich und menschlich angesehen worden war. Jesus fordert, der Trauer, dem Unbehagen, der Einsamkeit, der Demütigung den Vorzug zu geben und all dem zu misstrauen, was zu wünschen normal ist: Familie, Reichtum, Ansehen, Selbstwertgefühl (IV.11). Aus eben diesem Grunde verfolgten Domitian und die späteren Kaiser die Christen, als seien sie eine Plage (Epilog.2). Carrère vergleicht sie mit der jener unsichtbaren Nachbarn, die sich daran machten, das soziale Netz von innen zu verschlingen, wie in diesem klassischen Science-Fiction-Film:

Invasion of the Body Snatchers (1956)

Wie ist diese von Jesus vorgeschlagene Umkehrung der Werte zu verstehen? Carrère riskiert eine Erklärung: „Die Gesetze des Reiches Gottes sind keine moralischen Gesetze. Sie sind es nie. Es sind Gesetze des Lebens, karmische Gesetze […] Die Gauner kommen besser davon als die Tugendhaften […] Immer, wenn Freunde zu Besuch kommen, frage ich sie, was sie von dieser Geschichte [der des verlorenen Sohnes] halten. Ich lese sie laut vor und alle sind verwirrt. Es berührt sie, dass der Vater verzeiht, aber die Verbitterung des älteren Sohnes beunruhigt sie […] Danach lese ich ihnen die Geschichte vom Verwalter vor, der ein Gauner ist, und dann die von den Arbeitern im Weinberg, und sie verstehen auch nicht, was sie bedeuten. In einer Fabel von La Fontaine, da würden sie es verstehen, angesichts einer amoralischen und abgefeimten Moral würden sie lächeln. Aber es ist keine Fabel von La Fontaine, es ist das Evangelium. Es ist das letzte Wort darüber, was das Reich Gottes ist: die Dimension des Lebens, welche den Willen Gottes durchscheinen lässt. Wenn es darum ginge zu sagen, «das Leben in dieser niederen Welt ist so, ungerecht, grausam, willkürlich, wie wir alle wissen, aber das Reich Gottes, ihr werdet es sehen, ist etwas anderes…» – doch nichts davon. Das ist keineswegs das, was Lukas sagt. Er sagt: «So ist es, das Reich Gottes.» Und wie ein Zen-Meister, der ein Kōan ausgesprochen hat, hinterlässt er es dir, damit du es entzifferst“ (IV.45-46).

Er fügt hinzu, das Reich Gottes sei wie diese Analogie: „Ein weiser Inder spricht vom Samsara und vom Nirwana. Das Samsara ist die aus Wandel, Wünschen und Qualen bestehende Welt, in der wir leben. Das Nirwana ist die Welt, zu der der Erleuchtete Zutritt hat: Befreiung, Seligkeit. Doch der weise Inder sagt, «wer die Welt des Samsara und die des Nirwana unterscheidet, tut dies, weil er im Samsara ist. Wer nicht mehr unterscheidet, ist im Nirwana»“ (IV.47).

Nun, wenn Du bis zu dieser Stelle gekommen bist, lieber Leser, wirst du dich fragen, was Carrère glaubt. Das werde nicht ich dir sagen. Würde ich in diesem Beitrag darauf antworten, wäre das ein Verrat an ihm (der sich die Mühe gemacht hat, etwas Komplexes zu erklären, indem er dieses Buch schrieb) und an seinem Freund Hervé, einem Buddhisten, für den es wesentlicher ist, den Standpunkt der anderen kennenzulernen, als ihnen Lektionen darüber zu erteilen, wie die Dinge zu sehen sind. Ich denke, wenn dich das Thema interessiert, wird dich Das Reich Gottes begeistern. Ich bin der Meinung, dass Carrère dem Enigma, dem seine Leidenschaft gehört, treu geblieben ist.

Bonus Track:

 

Rembrandt, Die Lobpreisung Simeons (1631, Detail)

Lukas ist der einzige Evangelist, der darstellt, wie das Jesuskind im Tempel gezeigt wird. Dort befindet sich der Greis Simeon: „Er ist gerecht und barmherzig, er erwartet den Trost Israels, und der Heilige Geist hat ihm versprochen, dass er nicht sterben wird, ohne den Messias gesehen zu haben […] Der Greis hält das Kind in den Armen: «Und jetzt», sagt er, «jetzt, Herr, kannst du deinen Diener in Frieden scheiden lassen, denn meine Augen haben die Rettung Israels gesehen.» Man ahnt, dass er das Kind in seinen Armen wiegt, während er dies murmelt, und im Hintergrund ertönt die erhabene Kantate, welche Bach dieser Episode abgewonnen hat: Ich habe genug […]“ (IV.38).

Johann Sebastian Bach (1685-1750),  Kantate BWV 82, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau:

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